Vorderglärnisch GL (© M. Volken)

Er brummt, ächzt und singt: Vom Klang des Vorderglärnisch – INTERVIEW MIT...

«Tonaufnahmen eröffnen Mikrowelten, die das Auge nicht sieht.» Autor und Radiojournalist Claudio Landolt hat ein akustisches Portrait seines Heimatberges geschaffen. Ein künstlerisches Forschungsprojekt, das dem vermeintlich Unhörbaren eine Stimme gibt.

Sieben Fragen an Claudio Landolt. Von Aline Stadler.


Claudio, Du hast Dich dem Versuch angenommen, den Klang eines Berges einzufangen – weshalb der Vorderglärnisch? Und: Wie klingt er denn?


Ich wohne am Fuss des Vorderglärnisch. Wir grüssen uns jeden Morgen, wenn ich die Fenster öffne, und ich verabschiede mich von ihm, wenn ich abends die Vorhänge ziehe. Als ich nach Aufenthalten ausserhalb des Glarnerlands vor einigen Jahren wieder in meine alte Heimat zurückkehrte, wurde der Vorderglärnisch eine Art Fixpunkt meiner Rückkehr. Seit einiger Zeit bin ich fasziniert von phonografischen Feldaufnahmen und deren imaginärem Potenzial. Mein Background als Radiojournalist und Musiker bildete die Basis für eine Masterarbeit (Kulturpulizistik/ZHDK), in der ich mir die Aufgabe stellte, den Vorderglärnisch in einem auditiven Porträt einzufangen. Irgendwo zwischen Radiofeature und Musique Concrète. Der Vorderglärnisch schien das perfekte Untersuchungsobjekt. Einerseits weil ich ihn bis dato noch nie bestiegen hatte und ich mich so mit meiner alten Heimat auf neue Art vertraut machen konnte. Andererseits bot er eine vielversprechende Klangwelt, die es mit Mikrofonen und Fieldrecorder zu entdecken galt.

Letztlich gleicht der Vorderglärnisch, zumindest von Glarus betrachtet, einem Triangel. Verheissungsvoll. Ich war mir bewusst, dass sich Berge bewegen. Und was schwingt, klingt. Ich zog also los mit der eigensinnigen Idee, diesen Berg aufzunehmen und seine Eigenresonanz einzufangen. Wie er klingt? Grösser und unheimlicher als er aussieht. Er brummt, ächzt und singt.

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Seismografische Aufnahmen am Vorderglärnisch von Claudio Landolt und Jeff Moore. Auszug aus dem rund 35-minütigen Klangstück und Bergporträt. © Claudio Landolt

Insgesamt sind über 100 Stunden Tonaufnahmen am Vorderglärnisch entstanden. Wie hat Deine Feldarbeit konkret ausgesehen?


Zu Beginn zog ich einfach los. Beim ersten Versuch hatte ich Richtmikrofone dabei und hielt sie dem Vorderglärnisch entgegen. Auch wenn man da nicht mehr als einen diffusen Klangteppich, bestehend aus fernem Vogelgezwitscher, Wasserfällen, tausend kleinen Klangereignissen und fernen Flugzeugen, einfängt. Die Soundscape löst sich in ein weites, undefiniertes Rauschen auf. Ein Rauschen, das ich zu lesen versuchte und mich dazu verleitete, eine aufmerksame und relationale Hörhaltung einzunehmen. Mit Mikrofonen die Welt abhören ist Meditation. Schon bald stand ich mit selbstgelöteten Kontaktmikrofonen an Felswänden, installierte Geofone auf Grundstein, tauchte Hydrofone in den Gleiterbach und nahm die Bewegungen von Bäumen auf. Mein Vorgehen war intuitiv und die Aufnahmen vor allem auf das ausgerichtet, was mich klanglich faszinierte. An einem Punkt traf ich auf den amerikanischen Geophysiker Jeff Moore, der gerade an der ETH eine Gastprofessur innehielt, und wurde auf seine Arbeit in Utah aufmerksam, wo er mit Seismografen die Eigenresonanz von Felsbögen in Canyons aufnimmt. Ich überredete ihn dazu, mit mir und zwei vom Schweizer Erdbebendienst geliehenen Breitbandseismografen die Eigenresonanz des Vorderglärnisch einzufangen. Gegen Ende meiner über 30 Aufnahmeexkursionen dachte ich beim Klangsammeln in Aggregatszuständen. Ich suchte den Berg nach flüssigen, gasförmigen und festen Klängen ab. Viele Aufnahmen waren aber auch nicht brauchbar oder sagten daheim im Studio nichts Spannendes aus – Scheitern bringt weiter.

Feldaufnahmen © Peter Hauser

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Aufnahmen an der Seilbahn. Auszug aus dem Klangstück zum Vorderglärnisch. © Claudio Landolt

Was verraten die Tonaufnahmen über den Berg?


Sie machen seine Masse spürbar. Sie geben uns eine Ahnung über die gedehnte Zeit. Sie triggern unsere Imagination und zeigen, wie vielschichtig dieser Berg klingt. Meine Arbeit war nie darauf aus, diesen Berg komplett oder systematisch wissenschaftlich zu erfassen. Es ging mir um künstlerische Forschung, die viel näher bei einer experimentellen oder poetischen Klangreportage anzusiedeln ist, als dass ich nach konkreten Antworten gesucht hätte. Ich war interessiert daran, welche Klänge sich an einem Berg einsammeln lassen und, ob sich damit ein Berg «rekonstruieren» lässt. Es ging mir darum, unhörbare Schichten zu erlauschen. Immer im Bewusstsein, dass diese Aufnahmen stark von mir als Subjekt und meinen Aufnahmeapparaten beeinflusst sind. Es ist eine subjektive Auseinandersetzung mit dem Vorderglärnisch, die gegen aussen gedreht wird und versucht, diesen Berg für ein lesendes oder hörendes Publikum sinnlich erfahrbar zu machen.

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Wenn die Felswand zu pfeifen beginnt. Aufgenommen mit selbstgemachten Kontaktmikrofonen an einem Felsband im «Chäsgadewald» an der Nordseite des Vorderglärnisch. Auszug aus dem Klangstück. © Claudio Landolt

Was erfahren wir via Tonaufnahmen über den Vorderglärnisch, das visuell verborgen bleibt?


Im Gegensatz zu einer Fotografie fangen Tonaufnahmen zeitliche Prozesse ein. Sie eröffnen Mikrowelten, die das Auge nicht sieht. Das stete Klopfen des Schmelzwassers unter dem Firn oder die langsamen Massenbewegungen im Infraschallbereich. Ich will hier das Visuelle nicht gegen das Auditive ausspielen, sie stehen nicht in Konkurrenz. Aber was ich am Berg herausgefunden habe: Beide Dimensionen verhalten sich in Sachen Wahrnehmung unterschiedlich. Von der einen Talseite aus sehe ich zwar den ganzen Berg in seiner Fülle, aber ich höre nichts von ihm. Wenn ich jedoch nah an den Berg herantrete, «verschwindet» er aus meinem Sichtfeld, löst sich auf in den Bach oder Baum, vor dem ich soeben stehe. Aus dieser nahen Distanz beginnen jedoch die Dinge zu klingen – Hören setzt also eine gewisse Nähe voraus. Eine Kontaktaufnahme. Und wenn ich die aus nächster Distanz aufgenommenen Bruchstücke und Fragmente im Studio collagiere und überlagere, entsteht dabei eine dritte Empfindungsdimension, die über das Visuelle und Auditive hinausgeht.


Das ist interessant. Magst Du diese dritte Empfindungsdimension beschreiben?


Das ist sehr subjektiv. Aber für mich wird dadurch der Vorderglärnisch als Organismus greifbarer. Als komplexes Ding, das sich über die Zeit verändert. Fieldrecordings setzen Stimmungen frei, die ich automatisch zu deuten versuche. Durch aufmerksames Zuhören baue ich mir eine mögliche Realität zusammen. Auch wenn viele der Aufnahmen, die aufeinanderliegen oder aufeinanderfolgen, in Realität weder zusammengehören noch gleichzeitig passierten – beim Anhören bringen wir sie automatisch miteinander in Verbindung und bauen aus diversen Stimmungen eine neue Realität. Wenn ich die Komposition höre, fühlt es sich auch wie eine Art Raum an, den ich betreten kann. Eine Klangarchitektur, die mich zu einem imaginären Besuch einlädt.

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Mit einem Feuerwerker unterwegs. Auszug aus dem Klangstück zum Vorderglärnisch. © Claudio Landolt

Ebenso widmest Du Dich diesem Berg in einem Gedichtband. In welcher Beziehung stehen die Prosagedichte zu den Tonaufnahmen?


Ergänzend zu den Aufnahmen am Berg notierte ich mir auch Kontext, Wetter und Umgebung. Während der Komposition des Klangstückes las ich parallel dazu immer wieder in diesen Notizen. Ich sah deren literarisches Potenzial und begann, mich auf sprachlicher Ebene damit auseinanderzusetzen, wie dieser Berg klingt. Was dabei entstand – ein Gedichtband aus fragmentiertem geologischem Vokabular, Feldnotizen, Listen und Haikus – wurde schnell zu einem weiteren Hallraum meiner Tonaufnahmen am Vorderglärnisch. Darüber hinaus konnte ich mit Hilfe der Sprache die abstrakte Klangreportage zugänglicher machen und ihr einen narrativen Rahmen geben. Am Anfang war aber der Klang, dann kam das Wort. Und am Schluss erst die Symbiose von beidem in Form von Bühnenaufführungen, den sogenannten Tonbandlesungen.

Was wünschst Du Dir für den Vorderglärnisch, Deinen Heimatberg?


Ich wünsche ihm und uns, dass ihm keine grösseren Felszinnen abbrechen, dass man ihm auch in Zukunft gut zuhört und eine warme Decke unter dem schweren Winterschnee.

Die am Vorderglärnisch entstandenen Tonaufnahmen verbindet Claudio Landolt mit Strömungen der Drone-Musik und Neoklassik. Parallel zum Klangstück entstand ausserdem der Gedichtband und das Bergporträt «Nicht die Fülle nicht Idylle nicht der Berg» bei Der gesunde Menschenversand.

Aktuell ist er mit «Circa 244 Knochen. Katz-Ups» auf Tour und macht am 27. Januar 2024 Halt im Kellertheater im Vogelsang, Altdorf. Eine Performance mit Text, Ton und Bild, gemeinsam mit Marcel Moser.