Leukerbad VS (© M. Volken)

Leukerbad VS (© M. Volken)

James Baldwin in Leukerbad – literarische Verarbeitungen in den Alpen

In Leukerbad schrieb Baldwin seinen ersten Roman fertig. Seinen Spuren in den Alpen folgte der südafrikanische Schriftsteller Lewis Nkosi und ebenso Teju Cole – sie alle schreiben vom Leben schwarzer Amerikaner:innen und von modernisierten Bergdörfern. Ein Besuch der geothermischen Quellen im Wallis.

Als James Baldwin in den frühen 1950er-Jahren in Leukerbad in der Schweiz weilte, vollzog sich eine Reihe von wichtigen historischen Prozessen. Der Zweite Weltkrieg war gerade zu Ende gegangen und in Afrika und Asien war die Dekolonisierung im Gange. James Baldwin war ein Schriftsteller aus Harlem mit einer einzigartigen Prosa und makellosen Sätzen. Er verbrachte sein Leben zwischen Amerika, der Schweiz, Türkei und Frankreich. In die Walliser Berge gelang Baldwin durch seine Liebesbeziehung mit dem Schweizer Künstler Lucien Happersberger, den er in Paris kennenlernte. Hier in Leukerbad stellte Baldwin seinen ersten Roman «Go Tell it on the Mountain» fertig. Er schrieb auch den Essay «Stranger in the Village», der sowohl literarisch als auch ethnografisch über seinen Aufenthalt berichtet. In diesem Essay reflektiert Baldwin über die starken Auswirkungen von Sklaverei und Kolonialismus auf den Rassismus im ländlichen Europa. Baldwin ist hoffnungsvoll, vielleicht sogar sicher, dass die Nachkriegszeit neue Beziehungen schaffen kann.


Seine Beschreibung von Leukerbad wird durch die eindringliche und schwere Geschichte des Atlantiks, der Afrika, Amerika und Europa verbindet, belebt. Indem Baldwin diese Herangehensweise in Leukerbad aufstellte, eröffnete er die Möglichkeit für neue literarische Darstellungen der Alpen aus der Perspektive verschiedener Geografien ausserhalb Europas. Zudem schildern Baldwins Erfahrungen in Leukerbad auch von Prozessen der Industrialisierung und Modernisierung, die dort ihren Beginn nahmen. Jeder neue Besuch in Leukerbad, der Baldwins Reise nachzeichnet, erzählt gleichzeitig von Veränderungen vor Ort, die insbesondere die Bewirtschaftung kollektiver Ressourcen betreffen. Denn lokale und föderale Akteure in der Schweiz begannen in der Nachkriegszeit, auf die Tourismusinfrastruktur und Stromerzeugung mit Fokus auf neue Wasserkraftwerke zu setzen.

Nkosi auf den Spuren von Baldwin

Einer der ersten, der Baldwins Spuren in den Alpen verfolgte, war der südafrikanische Schriftsteller, Dichter, Kritiker und Akademiker Lewis Nkosi, der seit Ende der 1990er-Jahre in Basel lebte und lehrte. Bereits in Johannesburg las er den in Leukerbad fertiggestellten Roman «Go Tell it on the Mountain». Nkosi war in den 50er-Jahren, dem ersten Jahrzehnt der Apartheid, in Kreisen südafrikanischer Schriftsteller:innen und Musiker:innen in Johannesburg aktiv. In den 1960er-Jahren lebte er im Exil und kehrte auch nach dem demokratischen Wandel nicht nach Südafrika zurück, blieb jedoch ein Kritiker südafrikanischer Landschaftsliteratur. Die südafrikanischen englischen Schriftsteller, so argumentierte Nkosi, seien zu sehr in einem Landschaftsverständnis der britischen Romantik verhaftet: Einem Verständnis, das sich insbesondere auf die Alpen bezog, angestossen durch Lord Byrons und William Wordsworths Aufenthalte in der Schweiz. In der südafrikanischen Literaturwissenschaft gab es in der Folge Debatten darüber, wie der Ausdruck der südafrikanischen Landschaft diesem Verständnis entrissen wurde und wiederum einmalige Formen lokaler Literatur hervorgebracht hat, die sowohl britische Vorstellungen als auch südafrikanische Erfahrungen miteinbeziehen. Doch als Nkosi über die Alpen schrieb, bezog er sich nicht auf diese Debatte. Stattdessen spürte er dem nach, was damals die schwache Erinnerung an James Baldwin in den Alpen war.



In seinem Essay «The Mountain» gibt Nkosi – der Baldwin Anfang der 60er-Jahre in New York kennenlernte – einen Überblick über Baldwins schriftstellerische Laufbahn und seinen Weg durch Amerika, die Schweiz, Frankreich und die Türkei, wo er von einem sehr unterschiedlichen politischen Publikum empfangen wurde. Es handelt sich um einen Rückblick auf eine Zeit, in welcher sich der Modernisierungsprozess dem Ende zuneigt. Während Baldwin Leukerbad als weisse Wildnis («white wilderness») beschreibt, schildert Nkosi Leukerbad weniger als Alpendorf, sondern vielmehr als Ferienanlage, und die Berge als trostlos. Er spricht mit der Frau, die im Zimmer unter Baldwin gewohnt hatte, und mit Lucien Happersberger, der bis zum Lebensende mit Baldwin befreundet war. Beide zeichnen das Bild eines jungen Mannes, der hofft, Schriftsteller zu werden, und der von abends bis frühmorgens seine Schreibmaschine traktierte.

Als sich Baldwin Anfang der 1950er-Jahre in der Schweiz aufhielt, war die Geschichte noch in der Schwebe, und Nkosi zeigt, wie fliessend sein Schreibstil damals war und wie dieser durch die immer härter werdende Realität der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung bedroht wurde. Baldwins Enttäuschung über den Zustand der Nachkriegszeit und der Tod vieler seiner Freunde während dieser Zeit spiegelten sich in einer feurigen und prophetischen Stimme wider, die jedoch etwas von der trägen Sprache seiner früheren Jahre verloren hatte. Dieser Übergang führte auch zu einem weiteren Schwanken zwischen Zuneigung und harscher Kritik seitens diverser Kreise unterschiedlicher politischer Provenienz in Europa und Amerika, die seine Arbeit verfolgten.

Die Alpen als «ancestral ground»

In seinem Essay «Black Body: Rereading James Baldwin's ‘Stranger in the Village’» (2014) beschreibt der 1975 geborene Schriftsteller Teju Cole Baldwins Wahrnehmung der Alpen: Durch seine Fantasie hätten sich die Alpen in einen Ahnenboden («ancestral ground») verwandelt, auch der Gemmipass ist zu einer Bergkanzel («mountain pulpit») geworden, befeuert durch Baldwins prophetische Stimme. Coles Werk ist eine Meditation über das Leben, die Geschichte und die Kultur der schwarzen Amerikaner:innen und den Einfluss, den sie auf der ganzen Welt haben. Seine Perspektive ist die eines Akademikers und Künstlers, der in Nigeria geboren wurde und später als Teenager nach Amerika zog. Er wurde später für die Besonderheiten der Ethnie und des Lebens der Schwarzen in Amerika sensibilisiert und fühlt sich mit dem Atlantiküberquerer Baldwin verbunden, den er hier in Leukerbad trifft, wo Baldwin afrikanische, europäische und amerikanische Geschichte miteinander verknüpft hat. Während sich Baldwin in einem inneren Kampf zwischen Kulturen und Geschichten befindet, die ihn in verschiedene Richtungen ziehen, behauptet Cole seine Liebe für die westafrikanische und die europäische Vergangenheit und Kultur und erhebt einen Anspruch auf beide. Sein Essay handelt vom Leben – wobei es nicht das Leben der Menschen um ihn herum ist, das ihn zum Nachdenken anregt, denn das touristische Gehege scheint dazu nicht in der Lage zu sein. Vielmehr ist es die immerwährende Erhabenheit der Berge und die Anstrengungen des Erklimmens, die Cole über den Wert des Lebens unter Bedingungen von Gewalt nachdenken und mit dem gegenwärtigen Zustand in Amerika und darüber hinaus verbinden lassen. Angesichts der Hoffnung bei Baldwin und der Enttäuschung bei Nkosi fragt Cole: «Was nun?»

Persönliche Erfahrungen in Leukerbad

An einem Sonntag besuchte ich Leukerbad und ging nach dem Gottesdienst durch das alte Dorf; die Glocken läuteten, eine Mutter schob einen Kinderwagen und eine Gruppe von Freund:innen schaute sich den Dorfkern an, wobei einer von ihnen auf den Ort zeigte, den er in seiner Kindheit besucht hatte. Weiter draussen, jenseits des Dorfes, wagte ich mich in Richtung des Wasserfalls auf einem Holzsteg, der entlang der Felswand gebaut war. Unten badete ein Paar in den natürlichen Thermalquellen, während das Wasser in Kaskaden herabstürzte. Ich wanderte weiter in Richtung Majingalp, wo die Landschaft von mythischen Figuren und religiösen Statuen übersät war. Nachdem ich den Gipfel erreicht hatte, wanderte ich dem Wasserweg entlang den Berg hinunter nach Leukerbad. In der Migros besorgte ich mir Nudeln und Mineralwasser. Während einige Besucher:innen bis in den Abend hinein blieben, beeilte ich mich, um den letzten Bus des Tages um 17.35 Uhr ab Leukerbad zu erwischen.


Erstmals las ich «Go Tell it on the Mountain» während meines Studiums in Kapstadt, als ich mit einem Freund am Fusse des Tafelbergs wohnte, dem berüchtigtsten Berg Kapstadts. Der ursprüngliche Name des Berges ist Hoerikwaggo («aus dem Meer ragend»). Er wurde von den San so benannt, den ersten Bewohner:innen des Westkaps, die nach der Ankunft der ersten niederländischen Siedler:innen und der anschliessenden Kolonisierung des Kaps in den dortigen Bergen Zuflucht suchten. Aufgrund seiner indigenen und kolonialen Geschichte spielt der Hoerikwaggo eine wichtige Rolle in südafrikanischen Mythen, Legenden, Gedichten und Romanen. Aber als ich in Leukerbad war, war es nicht diese Landschaft, an die ich mich erinnerte.


Geothermische Quellen in Leukerbad und Bela-Bela

Aufgewachsen bin ich hauptsächlich zwischen Johannesburg und einer Stadt namens Giyani in Südafrikas nördlichster Provinz Limpopo. Von dieser Route kann man relativ leicht einen Abstecher zu einem Ort namens Bela-Bela im südafrikanischen Waterberg-Distrikt machen, wo geothermische Heisswasserquellen vorzufinden sind. (Der Name «Bela-Bela» aus der Sotho-Sprache bedeutet wörtlich übersetzt «heiss-heiss» oder «kochend».) Ich erinnere mich an einen Besuch an diesem Ferienort in meiner Kindheit, vor allem daran, wie ich im Pool unter dem sprudelnden Rohr sass und das Wasser auf meinen Kopf und meine Schultern herabfliessen liess. Es war ein seltsames Gefühl, irgendwie überwältigend entspannend, die Mineralien aus dem Wasser aufzusaugen.


Die Quellen wurden zunächst von Tswana-Einheimischen entdeckt und wegen ihrer medizinischen Eigenschaften verehrt, später dann von afrikanischen Siedler:innen, die zur Mitte des 19. Jahrhunderts den berüchtigten Grossen Treck vom Kap ins Innere Südafrikas unternahmen. In den 1870er-Jahren errichteten sie rund um die Quellen ein Resort. Nach dem Anglo-Buren-Krieg an der Wende zum 20. Jahrhundert ging der Ort an die Briten über, die dort eine Stadt errichteten. Heute ist Bela-Bela ein beliebter Ferienort in Südafrika.

Der Prozess der Industrialisierung und Modernisierung in Leukerbad im Wallis und in Bela-Bela im Waterberg wurde in gewissem Masse durch das Vorhandensein von geothermischen Quellen bestimmt. Die Rassismuserfahrungen, die Baldwin in den 1950er-Jahren in Leukerbad machte, sind nicht völlig unabhängig von dem historischen Wandel in Bela-Bela. Die Ortschaften sind durch die Sklaverei und die Kolonialisierung miteinander verbunden und bestimmen das Verhältnis zwischen Afrika, Europa und Amerika in unserer heutigen Welt. Nicht weit von Bela-Bela entfernt hatte sich in den 1870er-Jahren auch ein Kader von Schweizer Missionar:innen aus Neuchâtel mit ihrem Verständnis und ihren Erfahrungen der Alpen in dieser neuen Umgebung niedergelassen. Aber das ist eine Geschichte für ein anderes Mal.

Baldwin, James (1953): Go Tell It on the Mountain. New York.

Baldwin, James (1955): Stranger in the Village. In: Notes of a Native Son. New York.

Cole, Teju (2014): Black Body: Rereading James Baldwin’s ‘Stranger in the Village’. In: The New Yorker (19.08.2014). Online: [11.11.2024].

Nkosi, Lewis (1999): The Mountain, 102-125.