Sustenpass, Berner Seite (© M. Volken)

Simplonpass, Hospiz (© M. Volken)

Splügenpass, Altes Zollhaus (© M. Volken)

Col du Grand-St-Bernard, Hospiz und Schweizer Zollhaus (© M. Volken)

Furkapass, Passhöhe (© M. Volken)

Alpenpässe zu Fuss überqueren – auf kulturhistorischen Routen. INTERVIEW MIT...

Die neue Publikation «Über die Alpen» von Marco Volken führt über 15 kleine und grosse Pässe durch den Alpenraum. Routenvorschläge, historische Hintergründe und Fotografien machen deutlich: Es ist am eindrücklichsten, diese zu Fuss zu entdecken. Ein Gespräch über Alpenpässe und ihre Rolle(n) mit Marco Volken.

Aline Stadler: Marco, Du bist als Fotograf häufig in den Alpen unterwegs – und gestaltest Bildbeiträge unter anderem für Syntopia Alpina. Nun hast Du einen historischen Wanderführer veröffentlicht, in dem Du 15 Pässe näher vorstellt. Woher kommt Deine Faszination für Alpenpässe?


Marco Volken: Pässe haben seit je mein Leben geprägt. Der Blick zurück kann natürlich trügen und birgt die Gefahr, sich im Nachhinein einen Reim auf etwas zu machen. Aber es ist schon so, dass ein Kind, das im Tessin aufwächst, die übrige Schweiz nur über Pässe hinweg kennenlernen kann. Ob es nun die häufigen Besuche bei Verwandten im Oberwallis und im Berner Oberland waren, der Tagesausflug zum Skifahren nach Splügen, der Besuch des Verkehrsmuseums in Luzern oder des Zürcher Zoos: Stets mussten wir über den Gotthard, den Nufenen, den Simplon oder den San Bernardino. Die Passhöhen waren für mich vertraute Orte, eine Mischung aus alpiner Umgebung, kühler Brise und der Vorahnung auf Ferien, und zugleich Tore zu einer anderen Welt, mit anderen Menschen und anderen Sprachen. Später habe ich die Pässe eher nüchtern-pragmatisch als Ausgangspunkte für Berg- und Klettertouren genutzt. In letzter Zeit entdecke ich sie wieder als genuine Verbindungen und als eigenständige Landschaften mit ungemein spannenden Geschichten.

Die ausgewählten Pässe verteilen sich vom Bündnerland über den Kanton Uri und das Tessin bis ins Wallis. Wie kam es zu dieser Auswahl? Und, Hand aufs Herz: Wie viele Alpenpässe hast Du insgesamt bereits überquert?


Bei der Planung wurde schnell klar, dass Pässe mit einer Strassenverbindung im Vordergrund stehen mussten. Weil sie oft eine interessantere Vergangenheit aufweisen als reine Fussübergänge. Und weil mich die kulturelle Dimension stärker lockte als der Wandergenuss. Dennoch sollten sie auch als Wanderstrecken überzeugen, möglichst wenig dem Verkehrslärm ausgesetzt sein und keine langen Teerstrecken aufweisen (deshalb fehlen beispielsweise der Grimsel- und Ofenpass). Daneben habe ich eine geografisch ausgewogene Vertretung angestrebt. Und natürlich reizte mich, einige unterschätzte Übergänge wie die Luzisteig, den Sanetsch, die Ibergeregg oder den Monte Ceneri zu berücksichtigen. Es gab auch Pässe, die aus Platzgründen leider wegfielen – der Col du Lein, der Pillon, der Kunkelspass, der San Bernardino. Schlussendlich bleibt es eine subjektive Auswahl. Überquert habe ich sie jedenfalls alle…


Das Buch ist nicht nur Wanderführer und Bildband, sondern auch eine kulturhistorische Untersuchung, in welcher Du einen Blick auf die Nutzungsgeschichte der Pässe wirfst und beispielsweise auch soziale Aspekte des Tunnelbaus miteinbeziehst. Welche Erkenntnisse haben Dich dabei besonders beschäftigt?


Zwei Aspekte sind mir stark aufgefallen. Einerseits, dass nicht alle ausgebauten Pässe einer geografischen Logik folgen. Gewiss, bereits die Römer haben die wichtigsten Übergänge erkannt, ein guter Teil der heutigen Verkehrsachsen in der Schweiz geht auf ihr Konto zurück. Der Gotthard ist logisch, der Simplon ebenfalls, selbst die Luzisteig. Andere wurden eher zufällig ausgebaut. Etwa der Susten: Um 1810 wollte ihn der Kanton Bern aus geopolitischen Gründen um jeden Preis, während die Urner mit dem Gotthard ausreichend gefordert waren. Die Arbeiten zwischen Meiringen und Wassen kamen schleppend voran, und als der Grimselpass wenige Jahre später wieder befahrbar wurde, erkaltete Berns Interesse am Susten ebenso plötzlich. So blieb die damalige Verbindung ein unvollendetes Flickwerk. Und als mehr als ein Jahrhundert später eine moderne Strasse gebaut wurde, geschah dies aus einer kuriosen Mischung aus touristischen und militärischen Überlegungen. Von allen Urner Pässen ist er der am wenigsten befahrene. Auch die Strasse über die Schwägalp verdanken wir mehr oder weniger dem Zufall: Sie entstand als Zufahrt zur Seilbahn auf den Säntis. Welche Pässe ausgebaut wurden und welche nicht, ist also ein Stück weit Willkür.

Die zweite wichtige Erkenntnis ist eine soziale. Um einen Pass auszubauen, oder einen Tunnel, brauchte es früher mehr Menschen als Maschinen. Diese Menschen, oft Italiener, werden vor Ort kaum gewürdigt. Besonders schlimm waren die Arbeitsverhältnisse am Gotthard. Beim Bahnhof von Airolo erinnert ein bewegendes Denkmal an die Hunderten, die beim Bau des Tunnels ums Leben kamen. Aber auf dem Portal des Luzerner Bahnhofs, dem Ausgangspunkt der Gotthardbahn im Norden, wird der Ingenieur gefeiert, und vor dem Zürcher Hauptbahnhof der Financier. Wenn wir heute über die Alpen wandern, oder durch die Alpen fahren, verdanken wir dies vielen Menschen, die für einen Hungerlohn schufteten und oft gar ihr Leben lassen mussten.


Es geht also auch um eine Würdigung dieser Menschen und um eine Sichtbarmachung ihrer Arbeit... Welche Funktionen kommen denn Pässen für uns Menschen zu, früher und heute?


Berge trennen, Pässe verbinden. Aus der Ferne, von Zürich oder Milano aus, mag der Gotthard ein Hindernis darstellen. Aber vor Ort sieht es oft anders aus. Mancher Urner Hockeyfan fiebert lieber mit Ambrì als mit Zug. Und manche Brigerin fährt zum Apéro lieber nach Domodossola als nach Sion oder Bern.


Diese Verbindungsfunktion äussert sich auf vielfältige Art. Pässe waren und sind Schnittstellen, Überschneidungen, historische Verkehrswege, Zeugen der Technikgeschichte, Pilgerstätten. Sie sind laufend aktualisierte Kulturlandschaften, Brücken zwischen Regionen, Sprachen und Kulturen, Einfallsachsen für Güter und Gedanken, Fluchtwege. Deshalb wurden die Pässe – vor allem die grossen, wie Gotthard oder Simplon – im Laufe der Zeit zu Fixpunkten im kollektiven Selbstbild der Schweiz.

Inwiefern hat sich die Relevanz oder auch Wahrnehmung von Pässen in der Geschichte des Menschen verändert? Werden alpine Pässe vielleicht auch zu Unrecht übersehen – im Vergleich zu Gipfeln, die man stolz erklimmen kann?


Früher gab es diese Unterscheidung kaum. Pässe waren Berge, die Gipfel wurden erst später erfunden. So galt der Gotthard zeitweise gar als höchster Punkt der Alpen. Die Ausdifferenzierung zwischen Pässen und Gipfeln etablierte sich auf breiter Front erst im 19. Jahrhundert, nicht zuletzt auf Wunsch der Topografen, die für ihre immer detaillierteren Karten eine Unmenge an Flurnamen benötigten. Aber in gewissen Walser Dialekten bedeutet «Berg» immer noch ein Pass – wie beim Valserberg, Safierberg oder Stallerberg.


Einmal von der alpinistischen Komponente abgesehen, scheinen mir Pässe wesentlich spannender als Gipfel zu sein. Auf einem Gipfel sehen wir alles von oben. Aber wenn wir einen Pass überschreiten, sehen wir, wie alles zusammenhängt. Weil Pässe den Raum gliedern. Mit den Durchstichen haben manche Pässe ihre einstige Bedeutung verloren, oder genauer: Die Passhöhen, die Scheitelpunkte haben an Bedeutung verloren. Wer heute möglichst schnell von Altdorf nach Bellinzona will, nimmt einen der Gotthardtunnels. Obendurch gehen heute vor allem jene, die sich einen kleinen Umweg leisten wollen, um beim Hospiz die frische Luft zu geniessen, sich eine Bratwurst zu gönnen und einen Blick in die Bergwelt zu werfen – Pässe sind ja die niederschwelligsten Annäherungen ans Gebirge. Und, ganz wichtig: Wenn wir über statt durch den Gotthard fahren, erleben wir den Übergang vom Norden in den Süden auch physisch und emotional. Das gilt auch anderswo. Auf vielen Pässen weht stets ein Hauch von Urlaub.

Eine Frage an den Alpenfotografen: Welche Bedeutung kommt den Bildern in dieser Publikation zu?


Das Buch möchte vor allem Geschichten erzählen und so jedem Pass (s)ein Gesicht geben. Wir haben also versucht, Texte, Fotos und Gestaltung möglichst gut zusammenzufügen, damit ein grosses Bild entstehen kann. Manchmal haben mich die Bilder zu Texten inspiriert, in anderen Fällen lag eine Idee für den Text vor, und ich habe dann mit dieser Idee im Kopf fotografiert. Oft war ich auch mehrmals unterwegs, weil sich nachträglich zeigte, dass das eine oder andere Bild noch fehlte. Bei diesem Buch war es sicher von Vorteil, Texte und Bilder aus einer Hand liefern zu dürfen.


Es gibt aber auch Projekte, bei denen ich lediglich die Bilder beisteuere, wie bei Syntopia Alpina – und je nach Situation den Text unterstütze, ergänze oder ein wenig konterkariere. Im Idealfall führt das dann zu einer konstruktiven Spannung und zu einer facettenreicheren Darstellung eines Themas. Bei den Alpenpässen war das nicht nötig: Ihre Geschichten sind ohnehin sehr vielfältig und manchmal gar widersprüchlich.

Und nicht zuletzt: Gibt es eine persönliche Entdeckung, die Du während der Entstehung dieser Publikation gemacht hast und Dir besonders bleiben wird?


Früher waren Pässe für mich lediglich Ausgangspunkte – rauf mit dem Postauto, um von dort aus einen Gipfel zu erklimmen. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, einen Pass zu Fuss zu erreichen. Die Arbeit an diesem Buch hat mir aber gezeigt, dass die historischen Wege oft einsamer als manche Bergtour sind und abseits des Verkehrslärms verlaufen. Im dreistündigen Aufstieg von Realp zur Furka sind mir lediglich eine Älplerin, ein paar Kühe und Murmeltiere und ein Nostalgie-Dampfzug begegnet. Selbst auf dem Weg von Airolo zum Gotthard war es auf weiten Strecken sehr friedlich und still. Und deutlich ruhiger als an einem schönen Tag am Uri Rotstock, Matterhorn oder Everest.


Marco Volken, herzlichen Dank für diesen Einblick!


Das Buch «Über die Alpen. Grosse und kleine Pässe zu Fuss entdecken» von Marco Volken ist beim Rotpunktverlag im Sommer 2024 erschienen.