Vadret da Morteratsch GR (© M. Volken)

Vadret da Morteratsch GR (© M. Volken)

Morteratsch: Der verlorene Gletscher und seine Musealisierung

Poetisch wird der Morteratsch-Gletscher im Jahr 1850 beschrieben, als Transportunterlage im Zweiten Weltkrieg. Heute sticht vor allem blanker Fels ins Auge. Auf den Spuren des dramatischen Rückzugs frage ich mich, wie es weitergeht.

Am letzten Juni-Wochenende 2023 wandere ich gemeinsam mit meinem Vater im Oberengadin von der Haltestelle Morteratsch hoch zur Boval-Hütte. Die knapp zweistündige Wanderung führt grösstenteils entlang der Gletschermoräne des Morteratsch-Gletschers, die den historischen Gletscherverlauf markiert. Mein Vater und ich bleiben immer wieder stehen und lassen unseren Blick über das eisfreie Morteratsch-Tal gleiten. Hier wird vor Augen geführt, dass sich der Gletscher seit seinem Höchststand um 1857 auf dramatische Art und Weise um rund 3 Kilometer zurückgezogen hat. Die eigentliche Dimension des Gletschersterbens, so unfassbar wie sie auch ist, tritt im Anblick des leeren Tals hervor – sie wird greifbarer, konkret.

Geschmolzene Spuren

Mein Vater und ich bewegen uns nicht nur rein buchstäblich auf den historischen Spuren des Morteratsch-Gletschers, sondern auch auf den Spuren meines Grossvaters, Papas Vater, der vor rund zwei Jahren hundertjährig verstorben ist. In Nenis («Grossvaters») Nachlass fand ich ein Tagebuch aus den Jahren 1937 bis 1945. Er berichtet darin von einem Ski- und Gebirgskurs, den er als junger Korporal der Schweizer Armee in den Monaten Februar und März des Jahres 1943 im Oberengadin absolviert hat. So schreibt er, datierend auf den 2. März 1943: «0600 Tagwache. Dislokation der verschiedenen Detachemente in die Hochgebirgsunterkünfte. Det. Boval fährt bis Stat. Morteratsch. Transport der persönlichen Ausrüstung über den Gletscher zur Bovalhütte. S.A.C. 2490 m ü. M.»

Der gegenwärtige Blick ins Tal lässt keine Zweifel: 80 Jahre nach Nenis Tagebucheintrag ist an einen «Transport der persönlichen Ausrüstung über den Gletscher zur Bovalhütte» nicht mehr zu denken. Anstelle des Gletschers führt heute ein gut angelegter Gletscherlehrpfad in rund einer Dreiviertelstunde hoch bis zu der Stelle, wohin der Gletscher im Jahr 2010 noch reichte. Wer weitere zwanzig Minuten über steileres Gelände weitergeht, kann auch gegenwärtig Gletschereis betreten. Alpin bestens ausstaffierte Pensionäre, Mitzwanziger mit Turnschuhen, Mountainbiker:innen, junge Familien, eine Gruppe Feriengäste hoch zu Ross und sogar Jogger:innen – alle wollen im Zeitalter des akuten Klimawandels einen Blick auf den sterbenden Gletscher werfen. Nenis Spuren über das jahrtausendealte Eis hingegen sind nicht mehr rekonstruierbar. Das Eis, das er damals betrat, ist geschmolzen. Seinen Gang über den Morteratsch-Gletscher kann ich mir nur noch in Gedanken ausmalen. Irgendwo dort, zwischen der auf beiden Talseiten in rund 150 Metern Höhe verlaufenden Gletschermoräne, im luftleeren Raum, muss er damals seines Weges gegangen sein.

Vom «krystallhellen Eisgewölbe»

Ein knappes Jahrhundert vor meinem Grossvater, am 13. September 1850, überquerte der Churer Topograf und Forstingenieur Johann Coaz gemeinsam mit den Brüdern Jon und Lorenz Ragut Tscharner bei ihrer Erstbesteigung des Piz Bernina ebenfalls den unteren Teil des Morteratsch-Gletschers. Coaz schreibt: «Da die Seitenhänge des Morteratsch-Thales ziemlich ungangbar sind, so suchten wir baldmöglichst den Gletscherstrom zu erklettern, um über denselben den Hintergrund des Thales zu erreichen.» Erwies sich der Gletscher im unteren Teil noch als «hart gefroren und rauh, so dass wir mit unsern gut genagelten Bergstiefeln leicht und sicher darüber hinschritten», änderte sich dessen Gesicht «[e]twas über der Mitte des Gletscherstroms»:


[Dort findet sich] eine sehr zerklüftete Stelle, durch ein steileres Gefäll der Thalsole hervorgerufen. Wir glaubten uns über die Gräte, die sich lamellenartig zwischen den Spalten hinzogen, durcharbeiten zu können. Mussten wir auch bald von diesem Vorhaben abstehen, um die Stelle zu umgehen, so waren wir für unsere Mühen durch eine glänzende Erscheinung hinlänglich belohnt. In einer Eiswand wölbte sich eine weite Nische, die von Oben durch eine Spalte beleuchtet, vom zartesten, reinsten Lichtblau erfüllt war; Streifen von einem tiefen Dunkelblau, sogenannte blaue Bänder, durchzogen die krystallhellen Eisgewölbe.


Die von Coaz beschriebene Gletscherpassage entspricht kartographisch derjenigen Stelle des aktuellen Gletscherlehrpfades, die vor kurzem erweitert wurde. Dort können die vielen Tourist:innen nach der Überwindung «ein[es] steilere[n] Gefäll[es] der Thalsole» ihre Füsse auch noch 2023 auf Gletschereis setzen. Doch die «glänzende Erscheinung» des Gletschereises, jenes «zarteste[], reinste[] Lichtblau» sowie die «die krystallhellen Eisgewölbe», die Coaz und seine Begleiter in der Eiswand bewunderten, gehören einer Vergangenheit an. Im gegenwärtigen Restland von Felsen, Stein und Geröll sind diese kaum mehr vorstellbar. Die Gletscherlandschaft von 1850, wie Coaz sie schildert, ist uns als solche, genauso wie der Tagebucheintrag meines Grossvaters, nur noch archivarisch in Form seines Textes erhalten.

Die Dramatik des Eisrückgangs

Bei hochsommerlichen Temperaturen lassen mein Vater und ich auf der Terrasse vor der Bovalhütte die – auch in der Gegenwart noch – eindrückliche Gletscherwelt auf uns wirken. Später kommen wir mit dem Hüttenwart ins Gespräch, der uns auf historische Fotos des Morteratsch-Gletschers aufmerksam macht, die sich im Inneren der Hütte befinden. Mir bleibt dabei vor allem ein Foto aus dem Jahr 1938 in Erinnerung, der Zeit, als Neni sich in der Bovalhütte aufhielt: Im Vordergrund drei Personen, an einem Tisch sitzend, im Hintergrund der mächtige Pers-Gletscher, der sich in den Morteratsch-Gletscher ergiesst. Ein Blick durchs Hüttenfenster offenbart die massive Zäsur des Klimawandels: seit dem Hitzesommer 2015 sind der Pers- und der Morteratsch-Gletscher zweigeteilt. Dort, wo früher mächtiges Gletschereis sich türmte, liegt blanker Fels. Die sogenannte Isla Persa gehört der Vergangenheit an – ein Felskopf, der jahrhundertelang dermassen von Eis umgeben war, dass er den Eindruck erweckte, im Gletschereis geradezu verloren zu sein. Heute ist es vielmehr der Gletscher, der in einer Ödnis aus Fels und Stein verloren ist.

Wie wird, frage ich mich, während ich die historischen Fotos mit dem aktuellen Gletscherstand vergleiche, seine Zukunft aussehen? Wird an der Stelle, an der Coaz und Neni einst über scheinbar ewiges Gletschereis schritten, bald ein Touristenressort entstehen? Oder werden wir eines Tages vielleicht Coaz’ und Nenis Spuren in einem Ruder- oder Motorboot folgen: wenn ein Staudamm gebaut, das Tal geflutet und ehemals gefrorenes Wasser substituiert wird durch geschmolzenes Eis? Das würde zum gegenwärtigen Rückzug der Kryosphäre, der Welt des Eises, in eine allgegenwärtige Hydrosphäre, der Welt des Wassers, passen. Oder, wie der Hüttenwart der Bovalhütte sarkastisch meinte: Führt vielleicht schon bald eine Wasserrutschbahn von der Hütte in einen See im Gletschervorfeld? Es zeigt sich: Genauso wie die ehemals mythische Natur hat auch das scheinbar ewige Eis seit der Moderne eine Geschichte bekommen.

Konservierung und Musealisierung

Der Morteratsch-Gletscher mit seiner jahrtausendealten Vergangenheit durchlebt eine dramatische Gegenwart und steht vor einer bedrohten Zukunft. Dies ruft unterschiedliche Initiativen auf den Plan, die allesamt zum Ziel haben, den sterbenden Gletscher oder Impressionen desselben zu konservieren. So zum Beispiel das audiovisuelle Projekt «Melting Landscapes». Es verarbeitet Geräusche des Morteratsch-Gletschers zu einer Soundcollage und bewahrt sie damit für die Nachwelt. Oder das Projekt «MortAlive» unter der Leitung von Felix Keller, das beabsichtigt, den schmelzenden Morteratsch-Gletscher mit künstlich erzeugtem Sommerschnee zu bedecken zu dem Zweck, das Gletschersterben zu verlangsamen. Auf der Diavolezza besteht zudem die Möglichkeit, das Gletschersterben als «Virtual Reality Glacier Experience» virtuell zu erfahren. Verschiedene Studien sagen voraus, dass der Morteratsch-Gletscher, genauso wie eine grosse Mehrheit der Alpengletscher, bis ins Jahr 2100 grösstenteils weggeschmolzen und damit Geschichte sein wird. So werden meine Enkelkinder dereinst in 80 Jahren keine andere Wahl haben, als gemeinsam mit ihrem Vater oder ihrer Mutter in ein Museum zu gehen, um ein – medial vermitteltes – Gletscher-Erlebnis zu haben.

Coaz, Johann (1856): Topographischer Überblick über den Bernina-Gebirgsstock und die Beschreibung der Ersteigung seiner höchsten Spitze. In: Jahresbericht der Naturforschenden Gesellschaft Graubündens, Neue Folge, 1. Jahrgang, Chur, 44-66.