Aufgeheiztes Hochgebirge: Über Permafrost und Felsstürze
Viele Bergflanken im Hochgebirge sind in ihrem Innern gefroren, und das seit Jahrtausenden. Gefrorene Felspartien sind besonders standfest. Dieser willkommene Effekt wird jedoch durch den globalen Temperaturanstieg geschwächt. Was geht unter der Oberfläche der Berge vor? Fallen uns die eisigen Gipfel auf den Kopf?
Es ist wie ein spätes Erwachen. Schon weit mehr als ein Jahrhundert werden die spektakulären und für alle sichtbaren Gletscher – das vermeintlich «ewige» Eis an der Oberfläche der Hochgebirge – erforscht. Auch zum Eis unter der Erdoberfläche, dem tief reichenden Permafrost (Kurzform aus «permanent frost») in Sibirien, Alaska und Kanada, gibt es seit Jahrhunderten reiches Wissen. Erst vor wenigen Jahrzehnten dagegen setzten systematische Studien zum Eis im Innern gefrorener Berge im Hochgebirge ein. Inzwischen haben in Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik Bewusstsein und Interesse für Permafrost mit seiner Abhängigkeit vom Klima und seinem langfristigen Einfluss auf Sicherheitsfragen im Hochgebirge stark zugenommen. Dies ist nicht zuletzt eine Geschichte der öffentlichen Wahrnehmung. Das Phänomen, das in der Natur existiert, nimmt allmählich auch im Bewusstsein der Menschen Platz.
Wie erforscht man Permafrost im Gebirge?
Das Eis in dauernd gefrorenem Fels und Schutt liegt tief unter der Oberfläche. Es ist dem direkten Blick entzogen. Wissen und Verständnis müssen mit aufwändigen Techniken wie Bohrungen, geophysikalischen Sondierungen, präzisen Temperatur- und Bewegungsmessungen, Laborexperimenten und Computer-Modellen erzeugt werden. Eine Kommunikation der zuerst einmal abstrakten Inhalte ist wichtig, aber schwierig. Die Schweiz spielte hier von Beginn weg eine führende Rolle.
Die erste Frage ist jeweils, wo das Phänomen in der Natur auftritt. Schon früh entwickelte eine Expertengruppe der Akademie für Naturwissenschaften Faustregeln für Praktiker im Lawinenschutz, beim Seilbahnbau und bei der Gefahrenprävention. Das Bundesamt für Umwelt (das damals anders hiess) erstellte darauf eine noch heute zugängliche Karte der Permafrostverbreitung in den Schweizer Alpen. Im Rahmen eines EU-Forschungsprogrammes wurde dann für den gesamten Alpenraum eine Modellrechnung mit 25m-Auflösung entwickelt, die in Google Earth mit Satellitenbildern und digitalen Geländemodellen in anschauliche 3-dimensionale Perspektiven umgesetzt werden kann (Abbildung 1). Die Information ist heute allen zugänglich: Permafrost kommt in den Alpen vor allem oberhalb der Wald- und Mattengrenze vor. Besonders kalt sind steile Schattenflanken mit wenig Winterschnee und Schutthalden mit groben Blöcken, in denen die kalte Winterluft auch unter der isolierenden Schneedecke zirkulieren kann.
Wenn sich gefrorene Gesteinsmassen bewegen
In der Natur manifestiert sich das Phänomen Permafrost in den eisreichen, seit Jahrtausenden langsam hangabwärts kriechenden Schuttmassen. Diese auffälligen Fliessformen sehen ähnlich aus wie Lavaströme (Abbildung 2). Wegen der groben Blöcke an ihrer Oberfläche werden sie aus historischen Gründen «Blockgletscher» genannt. Das viele Eis in diesen Schuttmassen ist durch langsame und tief reichende Gefrierprozesse im Feinmaterial von Schutthalden oder Moränen entstanden. Es stellt zwischen den Gesteinskomponenten eine Verbindung her, trennt sie gleichzeitig aber auch voneinander und ermöglicht so dem im trockenen Zustand stabilen Schutt, sich wie eine zähflüssige Masse zu verformen.
Ein anderes Phänomen sorgte im Hitzesommer 2003 dafür, dass eine breite Öffentlichkeit die Existenz von Eis im Berginnern wahrnahm: Aus Klüften und Rissen von vollständig schneefrei gewordenen Felsflanken floss in den heissesten Wochen deutlich sichtbar Wasser. An vielen Stellen polterten kleinere und grössere Felsabbrüche ins Tal. Dabei wurde da und dort das Eis unter der Oberfläche sichtbar. Wegen eines massiven Felssturzes am Hörnligrat konnten Bergsteiger am Matterhorn nicht mehr vom Gipfel absteigen und mussten deshalb per Helikopter ausgeflogen werden. Blitzartig ging die Nachricht um die Welt: Die gefrorenen Berge beginnen aufzutauen. Der Permafrost im Gebirge hatte einen Erlebniswert erhalten. Für Viele entstand auf Grund der Medien der Eindruck, dass der Permafrost «die Berge zusammenhält». Das ist so nicht wahr, aber ganz falsch ist es auch nicht. Die wissenschaftliche Forschung hat grosse Fortschritte gemacht. Sie erlaubt heute ein differenziertes Verständnis.
Nicht der Permafrost, sondern das Gestein hält die Berge zusammen, aber …
Letztlich ist es immer der Fels, der bei kleineren und grösseren Stürzen bricht. Es ist das Gestein, das die Berge zusammenhält, nicht der Permafrost. Eis und kalte Temperaturen erhöhen jedoch diesen Zusammenhalt des Gesteins und damit seine Standfestigkeit. Im Permafrost ist nicht nur die Festigkeit von Eis, sondern auch von Fels bei tiefen Temperaturen besonders hoch. Dementsprechend nimmt die Festigkeit von gefrorenen Felspartien ab, wenn diese aufgewärmt werden. Besonders kritisch sind Temperaturen nahe 0°C, da dann im gefrorenen Fels zunehmend auch Wasser entsteht. Bei tiefen Temperaturen dichtet der gefrorene Zustand das Gestein gegenüber eindringendem Wasser ab. Dieser Effekt schwindet, wenn die Temperaturen gegen 0°C ansteigen. Ansteigende Temperaturen und zunehmender Wassergehalt spielen auch beim Kriechen von eisreichem Schutt eine wichtige Rolle. Ähnlich wie die Butter, die wir aus dem Kühlschrank nehmen, wird auch Eis bei höheren Temperaturen weicher und ermöglicht schnelleres Kriechen von gefrorenem Schutt. Gefrorene Berge aufwärmen heisst auch, sie aufzuweichen.
Im Rahmen der globalen Klimabeobachtung wird die Entwicklung des Permafrosts heute mit systematischen Messungen dokumentiert. Parallel zum Anstieg der globalen Lufttemperaturen wird der seit Jahrtausenden gefrorene Untergrund im hohen Norden und im Hochgebirge wärmer. In den europäischen Gebirgen ist beispielsweise der rasche Temperaturanstieg seit der Jahrtausendwende schon bis in grosse Tiefen festzustellen (Abbildung 3). Der Kriechprozess im gefrorenen und zunehmend erwärmten Schutt hat sich markant beschleunigt. Die Stabilität gefrorener, aber aufgewärmter Felsflanken hat generell abgenommen. Die Häufigkeit von grossen Fels- und Bergstürzen aus warmem Permafrost wie am Piz Cengalo bei Bondo 2017 (Abbildung 1) hat um ein Mehrfaches zugenommen. Solche Sturzereignisse können wie bei Bondo weitreichende Kettenprozesse auslösen. Besonders heikel ist das dort, wo sich als Folge des Gletscherrückgangs am Fuss von aufgeheizten Permafrostflanken neue Seen bilden, in denen bei Sturzereignissen weit reichende Flutwellen ausgelöst werden können.
Schneller Gletscherschwund, langsames Auftauen des Permafrosts
Permafrost wird rasch wärmer, taut aber im Gegensatz zum schnellen Abschmelzen der Gletscher nur sehr langsam auf. Bereits ab ungefähr der Mitte unseres Jahrhunderts könnte deshalb die Reserve an Gletschereis kleiner werden als die Reserve an Eis im Untergrund. Der aufgewärmte Permafrost und die damit verbundene Schwächung gefrorener Felsflanken in den Hochgebirgen der Erde sind nicht mehr zu verhindern und für menschliche Zeitdimensionen von Jahren und Jahrzehnten weitgehend irreversibel. Das wird zukünftige Generationen noch beschäftigen, wenn die meisten Gletscher längst verschwunden sind. Es ist höchste Zeit, diese ernste Klimafolge in ihrer ganzen Dimension wahrzunehmen. Nur auf dieser Basis können angemessene Anpassungsstrategien entwickelt werden.