Wenn es kracht und poltert – werden Bergstürze im Hochgebirge berechenbar?
Bergstürze wie im April 2024 am Piz Scerscen in der Bernina werden häufiger. Grund dafür sind die ansteigenden Temperaturen, welche die Festigkeit gefrorener Felspartien – den Permafrost – schwächen und ihre Wasserdurchlässigkeit erhöhen. Wie können wir Stürze im klimasensitiven Hochgebirge künftig abschätzen?
Nach den Bergstürzen aus Permafrost am Pizzo Cengalo im Bergell (2011 und 2017) sowie am Fluchthorn in der Silvretta (2023) ist das Ereignis am Piz Scerscen (2024) das vierte mit mindestens einer Million Kubikmeter innerhalb von 14 Jahren. In Anbetracht der gegenwärtigen Bedrohung für einen historischen Dorfkern durch eine Multimillionen-Kubikmeter Permafrostmasse am «Spitze Stei» oberhalb von Kandersteg fragt man sich unvermittelt, wann wohl das nächste Ereignis eintritt, wo das der Fall wäre und, ob auch grosse Schäden entstehen könnten. Genau entlang von diesen drei Gedankensträngen muss reflektiert werden, wie eine gravierende Klimafolge im Hochgebirge berechenbar werden kann und werden muss.
Wann kommt der nächste Sturz?
Im dicht besiedelten Alpenraum existiert die weltweit wohl vollständigste Dokumentation von grossen Sturzereignissen. In der Höhenzone oberhalb von 2000 Meter, also im Bereich des Hochgebirges mit Gletschern und Permafrost, haben sich zwischen 1900 und 1980 vier Bergstürze mit mindestens einer Million Kubikmeter Volumen ereignet, wie 2012 in «Natural Hazards and Earth System Sciences» aufgezeigt wurde – im Mittel also etwa alle 20 Jahre. Zwischen 1980 und 2000 gab es weitere vier solche Ereignisse – durchschnittlich also alle 5 Jahre. Seit der Jahrtausendwende sind sieben weitere Ereignisse dazugekommen, was einem «Millionensturz» alle 3.5 Jahre entspricht. Auch wenn die Zahlenbasis für solch nach wie vor seltene Ereignisse schmal ist, wird die Häufung und die entsprechende Reduktion der Wiederkehrdauer doch deutlich: Was in den letzten Jahrhunderten im Jahrzehnte-Rhythmus eintrat, geschieht heute alle paar Jahre und in nicht allzu ferner Zeit möglicherweise mehr oder weniger alljährlich.
Diese Zahlen von dokumentierten grossen Sturzereignissen beziehen sich auf Steilhänge mit Neigungen über 30° bis 40° in den zentralen Alpen oberhalb von 2000 Meter Höhe. Die entsprechende Grundrissfläche beträgt für das erfasste Gebiet rund 2500 Quadratkilometer. Rechnet man für heutige Bedingungen mit einem Ereignis alle vier Jahre, erhält man eine flächenbezogene Zeitspanne für einen Millionensturz von rund 10'000 Jahren pro Quadratkilometer Steilflanken-Grundfläche oberhalb von 2000 Meter Höhe. Die entsprechende jährliche Eintretenswahrscheinlichkeit eines grossen Ereignisses ist demnach 0.01 Promille pro Quadratkilometer Steilflanken-Grundfläche. Diese faktenbasierte Schätzung kann auf beliebige Steilflanken angewendet werden. Sie zeigt, dass grosse Stürze in einer einzelnen Hochgebirgs-Steilflanke nach wie vor sehr selten sind. Das ändert sich jedoch, wenn Felsstürze über längere Zeiträume und über grössere Gebiete mit verschiedenen Hochgebirgs-Steilflanken hinweg betrachtet werden, wie beispielsweise in Einzugsgebieten von hochalpinen Kraftwerken im Zuge jahrzehntelanger Kraftwerkskonzessionen. Hier kann der Erwartungswert grosser Stürze schnell auf Prozente steigen. Solch hohe, in Zeit und Raum kumulierte Werte sind mit langfristigen Grenzwerten für Schadenlawinen oder Schadenhochwasser vergleichbar. Bergstürze im Hochgebirge stellen zunehmend ein sehr wohl wahrnehmbares und ernst zu nehmendes Gefahrenpotenzial dar. Mit anderen Worten: Man muss im doppelten Sinn des Wortes «mit ihnen rechnen».

Wo kommt der nächste Sturz?
Über Zeiträume von Jahren und Jahrzehnten hinweg können Ort, Zeit und Volumen zukünftiger Bergstürze im Hochgebirge nach wie vor nicht exakt vorhergesagt werden. Anhand der entscheidenden Faktorenkombination aus Topografie, Gestein und Eis lassen sich jedoch mögliche Anrisszonen räumlich eingrenzen. Topographisch sind eine steile Hangneigung (mindestens 30° bis 40°) und eine genügend vertikale Ausdehnung (als Faustregel für grosse Stürze gelten mehr als 200 Meter) entscheidend. Diese Voraussetzungen können anhand von digitalen Geländemodellen grossräumig definiert werden. Geologische Voraussetzungen wie Klüftung oder Schichtung müssen an Ort und Stelle beurteilt werden. Auf die Festigkeit und Wasserdurchlässigkeit gefrorener und oft auch eisbedeckter Felspartien haben Permafrost, Hängegletscher und Wandvereisungen entscheidenden Einfluss.
Die intensive Forschung über Gletscher, Permafrost und Hangstabilität im Hochgebirge hat nicht zuletzt dank modernster Technologien grosse Fortschritte gemacht. Aus Laborexperimenten wie bei Davies & Co. ist bekannt, dass die Festigkeit von gefrorenem Felsen mit eisgefüllten Klüften bei zunehmenden Temperaturen stark abnimmt. Systematische Bohrlochmessungen zeigen, dass der Permafrost im Hochgebirge mit den steigenden Temperaturen der Atmosphäre bis in Tiefen von 50 bis 100 Metern unter der Oberfläche wärmer und damit mechanisch schwächer geworden ist, wie Etzelmüller & Co. aufzeigen. Die Temperaturen im europäischen Gebirgspermafrost nehmen zurzeit mit rund 0.5°C pro Jahrzehnt oder 5°C pro Jahrhundert zu, wie der jüngst in «Nature Communications» erschienene Bericht beweist. Die zunehmende Zahl von Instabilitäten ist die logische Konsequenz. Im wärmer und schwächer werdenden Permafrost kann Wasser nicht zuletzt besser in das Berginnere eindringen und dadurch hohe Wasserdrucke aufbauen. Bei der Auslösung von Stürzen ist dies oft ein entscheidender Faktor.
Kritische Situationen können gerade auch im Hinblick auf die weitere Erwärmung und Schwächung von Permafrost-Flanken im klimasensitiven Hochgebirge heute erkannt werden. Die Disposition zu grossen Sturzereignissen oberhalb des Oeschinensees beispielsweise wurde bereits vor Jahren wahrgenommen und publiziert. Nicht jeder Sturz richtet allerdings Schäden an. Hoch-Risiko-Situationen wie bei Kandersteg und ein entsprechender Handlungsbedarf müssen deshalb in Kombination mit lokalen Schadenpotenzialen beurteilt werden. Auch diesbezüglich muss mit handfesten Zahlen gerechnet werden.
Vom Naturphänomen zum Hoch-Risiko
Das Ereignis am Piz Scerscen 2024 zeigt, dass auch grosse Stürze ohne wesentliche Schadenfolgen ablaufen können. Der rund halb so grosse Bergsturz am Pizzo Cengalo 2017 hingegen hatte Menschenleben gekostet; zudem hatten die durch ihn ausgelösten Murgänge an der Infrastruktur im Haupttal grosse Zerstörung verursacht. Für die Beurteilung des Gefahren- und Schadenpotenzials entscheidend ist oft die Frage, ob der enorme Impuls eines grossen Sturzes weitreichende Ketten von Prozessen auslösen kann. Besonders kritisch, wie auch im Fall «Spitze Stei» oberhalb von Kandersteg, ist die Präsenz von Seen in der Sturzbahn. Durch die Kombination der eintauchenden Masse mit dem dynamischen Impuls des schnellen Stürzens oder Fliessens kann in einem See ein Mehrfaches des Sturzvolumens in kürzester Zeit freigesetzt werden. Die daraus resultierenden Flutwellen verlängern talabwärts die Gefahrenzone über grosse Distanz hinweg und gegebenenfalls bis hinein in früher als sicher erachtete Bereiche des menschlichen Siedlungsraums. Das Schadenpotenzial und damit das Risiko kann entsprechend hoch werden.
Wie also sieht eine angemessene Gefahrenprävention aus? Entscheidend ist, die Eintretenswahrscheinlichkeit und das Schadenpotenzial zu berechnen und dadurch das Risiko quantitativ zu analysieren. Wo durch den Gletscherrückzug neue Seen entstanden sind und wo sich bald weitere Seen unmittelbar am Fuss steilster Hochgebirgsflanken bilden dürften, ist aus Modellrechnungen weltweit bekannt. Auch bereits bestehende oder geplante Stauseen müssen auf ihre Sicherheit hinsichtlich der sich rasch verändernden Stabilitätsbedingungen in ihren Einzugsgebieten überprüft werden. Einfache wie komplexe Modellrechnungen stehen schon heute zur Verfügung, um die Gefahr und mögliche Wirkung von Flutwellen abzuschätzen. Am Aletschgletscher dürften sich ab etwa der Jahrhundertmitte als Folge des Gletscherrückgangs mehrere Seen direkt am Fuss von Steilflanken bilden, deren Stabilität durch Druckentlastung und geschwächten Permafrost bereits heute reduziert ist und weiterhin abnimmt. Die jährliche Wahrscheinlichkeit eines Sturzes in einen dieser Seen mit anschliessender Flutwelle dürfte dadurch entsprechend ansteigen – von heute null Prozent auf mehrere Prozent gegen Ende des Jahrhunderts.
Ist das Schadenpotenzial erkannt, können wie beim «Spitze Stei» oberhalb des Oeschinensees Schutzmassnahmen ergriffen werden. Grosse Stürze künden sich durch Vorstürze an. Kritische Felsbewegungen können mit grosser Präzision erfasst und beispielswese Stauseen zu Rückhaltbecken umfunktioniert werden. Während die Analyse durch Expert:innen erfolgt, liegt die Umsetzung der Gefahrenprävention bei den Behörden. Frühwarnung und Gefahrenzonenplanung helfen, Menschenleben zu bewahren. Das alles hat einen hohen Preis, welcher in die Berechnung miteinbezogen werden muss. Die Klimaänderung ist nicht gratis. Auch im alpinen Hochgebirge nicht.