Séverin Duc, Blatten im Lötschental VS (© M. Volken)

Séverin Duc, Kippel im Lötschental VS (© M. Volken)

«Das Leben in den Bergen war schon immer unsicher»: Von der Stärke alpiner Gemeinschaften – INTERVIEW MIT...

Alpine Gemeinschaften haben eine besondere Fähigkeit, auf Herausforderungen erfinderisch zu reagieren, findet Historiker Séverin Duc. In seinem Blog und den Büchern «Les Alpes du futur» beleuchtet er das Leben in den Alpen aus historischer Perspektive – und schafft Raum für alpine Visionen.

Séverin Duc, mit «Back/Future. L’Histoire est notre Alliée!» betreiben Sie einen Blog, der sich aus historischer Perspektive den Alpen widmet. Welche Intention steckt dahinter?

Der Alpen-Newsletter «Back/Future» ist ein philosophischer Ansatz und bietet Raum für Reflexion. Als Alpenhistoriker weigere ich mich, die Vergangenheit auf die Rolle eines Museums zu beschränken. Die Geschichte ist eine lebendige Kraft und ein Labor für Experimente. Es geht darum, sinn- und richtungsgebende Erzählungen zu konstruieren, damit unsere alpinen Vorstellungswelten den anstehenden Veränderungen gewachsen sind. «Back/Future» und die beiden daraus hervorgegangenen Bücher «Les Alpes du futur» verfolgen die Idee, Ängste zu entkräften und unsere Anpassungs- und Transformationsfähigkeit in den Alpen zu stärken.

Alpine Landschaften werden sich, bedingt durch den Klimawandel, stark verändern in den nächsten Jahren – haben wir Gründe genug, positiv der Zukunft entgegenzutreten?

Die Alpen werden sich nicht verändern, sie haben sich bereits verändert! Das Einzige, was sich nicht ändert und mich ein wenig beunruhigt, ist die Software der Vergangenheit, die sich zwischen uns und die neuen Alpen schiebt. Viele Menschen möchten in ihrer Komfortzone umhergehen und riskieren dabei Klimaleugnung. Wenn wir Handlungsfähigkeit und Know-how in Reserve haben, muss man diesen grossen kollektiven Willen wiederfinden, der mit der Modernisierung und der fabelhaften Aufwertung der Alpen ein wenig verloren gegangen ist. Je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es jedoch, die produktivistische und planerische Vision des 20. Jahrhunderts zusammenzuhalten – angesichts eines Gebirges, das sich schon heute als ein in seiner Stabilität bedrohtes Gebiet denken muss. Für einige Täler, wie zum Beispiel das Lötschental, ist sogar festzustellen, dass lokal die Existenzbedingungen in den Bergen durch die Instabilität eines Berges und eines Gletschers auf Null reduziert werden. Was mich bei der Bewältigung dieser Herausforderungen optimistisch stimmt, ist die lokale adaptive Intelligenz, die Fähigkeit, Dinge selbst zu tun, Kollektive zu bilden und sich auf Einschränkungen zu stützen, die für alpine Gesellschaften charakteristisch ist.

Inwiefern ist es gerade als Historiker von Bedeutung, sich mit Visionen auseinanderzusetzen?

Über das Morgen zu sprechen ist eine natürliche Erweiterung meiner Disziplin. Historiker:innen erforschen die Vergangenheit und die Vergangenheit verstehe ich als eine Abfolge von erlebten Gegenwarten und erträumten Zukünften unserer Vorfahr:innen. Wie soll man die Modernisierung der Alpen im 19. Jahrhundert, die Erschliessungen im 20. Jahrhundert oder die Entwicklung des Massentourismus verstehen, ohne die Visionen und Ideologien anzuschauen, die ihnen zugrunde lagen? Ich sehe meine Aufgabe darin, Entscheidungsträger:innen und Alpenbewohner:innen die Geschichte als Ideenreservoir vorzuführen, anstatt als unbewegliches Fundament, das von Gewissheiten und fantasierten Traditionen durchzogen ist. Wir müssen wieder lernen zu sehen, wie unsicher die Berge schon immer waren. 

Und in diesem Zusammenhang plädieren Sie dafür, sich zusammenzutun und gemeinsam Ideen für das Leben in den Alpen zu entwerfen und umzusetzen.

Alpine Gemeinschaften haben bisher eine aussergewöhnliche Fähigkeit zur Anpassung und Erfindung bewiesen. Die Stärke der Alpen liegt schon immer in der Fähigkeit, die Dinge selbst zu tun und Massenkristalle zu bilden, um mit Elias Canetti zu sprechen – kurz gesagt: Architekt:innen der eigenen Zukunft zu sein. Die oder der Einzelne kann nicht allein auf das Ausmass der heutigen Herausforderungen reagieren. Klimawandel, wirtschaftliche Herausforderungen und die Erhaltung des vertikalen Erbes erfordern ein gemeinsames Vorgehen. In der Geschichte hat die Zusammenarbeit die alpinen Gesellschaften gedeihen lassen. Diese Logik ist heute relevanter denn je. Nur starke Gemeinschaften, die lokale, kantonale und internationale Grenzen überschreiten, können kollektive Antworten erarbeiten und ehrgeizige Aktionen in Gang setzen.

Haben Sie Beispiele für solche Neuausrichtungen alpiner Gemeinschaften? 

Eine der Grundlagen der alpinen Kultur ist die beeindruckende Fähigkeit der Gemeinden, sich anzupassen und neu zu erfinden, indem sie sich auf die neuen Bedürfnisse der städtischen Bevölkerung stützen. Ich nenne diesen schrittweisen Transformationsprozess «Tuilage» («Überlappung»). In den italienischen Alpen beispielsweise gelingt es den «Agriturismi», einen Bauernhof, eine hochwertige Lebensmittelproduktion und die Beherbergung von Touristen zu integrieren. An einem einzigen Ort konzentrieren sich die Leidenschaft für die Aufrechterhaltung der Tätigkeit in den Bergen, alte Praktiken wie die Viehzucht und das Bestreben, durch die Gewinnung von Reichtümern von aussen ein solides Geschäftsmodell zu schaffen. Das Gleiche findet man bei einigen Berggasthöfen im Wallis. Sie sind alle in Netzwerke eingebunden, sowohl institutioneller Art (Internet-Referenzierung für Reservierungen) als auch privater Art (Erstellung von Inhalten in sozialen Netzwerken).

Nun erstrecken sich die Alpen über mehrere Länder und Sprachkulturen – wie können wir gemeinsame Handlungsfelder definieren, Pläne schmieden und auch realisieren?

Der Schlüssel liegt in der Förderung des Dialogs und der Begegnung, nicht nur auf institutioneller Ebene, sondern vor allem zwischen den Akteur:innen vor Ort – zwischen Landwirt:innen, Unternehmer:innen, Tourismusfachleuten, Forschenden und Kunstschaffenden. Ein Beispiel für eine solche Initiative ist das Alpenfest am Mont-Cenis-Pass: Hier treffen vor einem grossen Staudamm Alpenbewohner:innen und Tourist:innen auf einen grossen Markt mit französischen und italienischen Produkten, auf Bergtänze (unter anderem von einer bolivianischen Gruppe, die auf 2900 Höhenmetern lebt) und zahlreichen Konzerten sowie kulturellen Konferenzen. Das Alpenfest bietet jeweils die Gelegenheit, durch Unterzeichnungen die politischen und institutionellen Beziehungen zwischen dem französischen Departement Savoyen und den italienischen Regionen Aostatal und Piemont zu stärken. Aus meiner Sicht müssen vermehrt konkrete grenzüberschreitende Initiativen wie diese ergriffen werden; solche, die es Einzelpersonen ermöglichen, an gemeinsamen Projekten zu arbeiten, ihre Ansätze zu vergleichen und mögliche Synergien zu entdecken.

Der Alpenraum zeichnet sich durch eine besondere klimatische und kulturelle Vielfalt aus. Wie können wir regionales Handwerk und Wissen pflegen und aufrechterhalten?

Die Vielfalt, sei es klimatisch, ökologisch oder kulturell, ist der ureigene Reichtum der Alpen. Es ist diese Pluralität, die sie zu einem so einzigartigen und faszinierenden Gebiet macht. Die Pflege und Bewahrung von Know-how und kulturellem Wissen ist für mich eine lebenswichtige Notwendigkeit, da sie die Grundlage unserer Identität und unserer zukünftigen Widerstandsfähigkeit bilden. In Alpen der Zukunft 2 betone ich die Fähigkeit, Unterschiede zu produzieren, ein Begriff, der sich perfekt auf die Aufwertung dieses Erbes anwenden lässt. So plädiere ich beispielsweise für eine entschiedene Unterstützung der Qualitätslandwirtschaft in den Bergen. Unsere Käsesorten, unsere Weine und unsere regionalen Produkte sind nicht einfach nur Produkte; sie sind das Ergebnis geduldiger Arbeit, einer jahrhundertelangen und innigen Beziehung zur Erde. Sie tragen komplexes Know-how, Kenntnisse über Böden, Klima und Tierrassen in sich, die von unschätzbarem Wert sind. Sie zu erhalten bedeutet, ein lebendiges kulturelles Ökosystem zu bewahren, eine Wertschöpfungskette, die weit über den wirtschaftlichen Aspekt hinausgeht.

Sie selbst kommen aus der französischen Region Savoyen, welche am Rande des Aostatals, des Piemonts und der Schweiz liegt. Heute leben Sie in Neuenburg. Bemerken Sie in den jeweiligen Ländern Unterschiede, welche Präsenz respektive Bedeutung die Alpen in der Öffentlichkeit erhalten?

Ja, ich stelle signifikante Nuancen im Alpenbild fest. In Frankreich, ausserhalb der Alpenregionen, ist das Bild der Alpen schematisiert, oft auf den Tourismus reduziert und es wird die Tatsache verschleiert, dass es sich um ganzjährig lebendige Gebiete handelt. Die Zivilgesellschaft ist sich jedoch zunehmend den Veränderungen bewusst. Viele Verbände und Unternehmen sind bereit, sich den Herausforderungen zu stellen. In der Schweiz scheint die Bedeutung der Alpen tiefer in der nationalen und kollektiven Identität verankert zu sein. Die Berge werden dort als ein konstituierendes Element des Landes wahrgenommen. Allerdings kann die föderale Struktur der Schweiz eine gemeinsame Position der Alpenkantone bremsen. In diesem Sinne ist die Autonomie der Kantone nur dann von Vorteil, wenn sie mit einem innovativen Geist und einer Politik der alpinen Zusammenarbeit einhergeht, was nicht immer der Fall ist.

Und als Letztes: Was bedeuten die Alpen Ihnen persönlich?

Die Alpen sind für mich mehr als nur ein Studienobjekt – ich bin ein Teil von ihnen, ich stamme aus ihnen. Jeder Mensch, der in den Alpen geboren wurde, trägt ein kleines Stück Alpen in sich. Die Verantwortung eines Jeden und einer Jeden ist es, zu wissen, was man daraus macht. Für mich bedeutet Alpen zu sein, zu wissen, dass ich in ein «Land der Anstrengung» hineingeboren wurde, das sowohl Demut (angesichts des zusammenbrechenden Berges) als auch die Kraft der Ausdauer (beim Begehen des Almweges, den man eröffnet und pflegt) lehrt. Die Anbetung des Berges bedeutet keinesfalls eine Passivität ihm gegenüber. Sie ist eine ständige Erinnerung daran, dass das Leben eine Abfolge von Auf- und Abstiegen ist, von Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt, und von Panoramen, die es zu betrachten gilt. Schliesslich fordern uns die Alpen heraus und erinnern uns daran, dass alles miteinander verbunden ist: das Klima und die Wirtschaft, die Geschichte und die Zukunft, der Einzelne und das Kollektiv. Sie sind ein unaufhörlicher Aufruf zu tiefem Nachdenken, zu kollektivem Handeln und zu jener Fähigkeit, Unterschiede zu produzieren, die in meinen Augen einer unserer grössten Reichtümer ist.

Séverin Duc, herzlichen Dank für dieses Gespräch!