Bietschhorn & Kleines Nesthorn VS, Oktober 2024 (© M. Volken)

Birchgletscher VS, Oktober 2024 (© M. Volken)

Blatten VS, vor dem Bergsturz (© M. Volken)

Kleines Nesthorn VS, Juni 2025 (© M. Volken)

Lötschental VS, Juni 2025 (© M. Volken)

Blatten VS, Juni 2025 (© M. Volken)

Blatten im Lötschental – ein Nachtrag aus aktuellem Anlass

Die Frage, wann und wo in den Alpen ein nächster Bergsturz niedergehen und allenfalls Schäden verursachen wird, hat mit der Katastrophe von Blatten am 28. Mai 2025 eine ausserordentlich schnelle und tragische Antwort erhalten. Die Auslöschung eines jahrhundertealten Bergdorfs kann mit Bundesrat Rösti durchaus als ein «Jahrtausendereignis» bezeichnet werden. Eine erste Analyse des Vorgangs in der Natur ergibt jedoch ein anderes Bild. Dies vor allem auch im Hinblick auf die Zukunft.

Bergstürze im Hochgebirge resultieren aus einem Zusammenspiel von drei entscheidenden Faktoren: Topographie, Gesteinscharakteristik und Eis. Am kleinen Nesthorn waren alle drei Faktoren im kritischen Bereich: Die Anriss-Zone in der Bergflanke war hoch und steil, das Gestein stark zerrüttet und labil, der Permafrost tiefgründig erwärmt und geschwächt, und zudem wurde ein steiler Hanggletscher destabilisiert. Diese Bedingungen wie auch die beteiligten Fels- und Eisvolumen sind mit dem Ereignis am Piz Scerscen vom 24. April 2024 vergleichbar. Auch am Piz Scerscen waren nebst dem geschwächten Fels in steilsten Hängen Permafrost und Gletscher beteiligt. Das gesamte Sturzvolumen betrug in beiden Fällen mehrere Millionen Kubikmeter. Die Auslaufstrecke am Piz Scerscen war rund 2 Kilometer länger und die in der Praxis für die Abschätzung von Reichweiten oft verwendete mittlere Neigung der Sturzbahn (25%) zwischen dem obersten Anriss und dem untersten Ende der Ablagerung deutlich kleiner als bei Blatten (ca. 35%). Überträgt man die Kennwerte vom Piz Scerscen auf das Ereignis von Blatten, hätte der Sturz im Lötschental auch Weissenried zerstören und bis zum Dorf Wiler gelangen können. Im Jahr 2002 hatten im Kaukasus Felssturzablagerungen einen Gletscher von rund 100 Millionen Kubikmeter destabilisiert. Das Ereignis von Blatten ist eindrücklich, verheerend und schockierend. Hinsichtlich der Vorgänge in der Natur einmalig oder ausserordentlich ist es jedoch nicht.

 

Mit dem Bergsturz von Blatten 2025 sind während den letzten 15 Jahren im gut dokumentierten zentralen Alpenraum fünf grosskalibrige Sturzereignisse – Cengalo 2011, Cengalo 2017, Fluchthorn 2023, Scerscen 2024, Kl. Nesthorn 2025 – mit mindestens einer Million Kubikmeter Volumen erfolgt. Dies entspricht einer mittleren Wiederkehrdauer von 3 Jahren gegenüber 20 Jahren zwischen 1900 und 1980 und 5 Jahren zwischen 1980 und 2000. Raffinierte Statistiken kann man mit diesem spärlichen Zahlenmaterial kaum anwenden, da die Ereignisse nach wie vor selten und vor allem auch «nicht-repetitiv» sind: Das gleiche Ereignis kann sich in identischer Weise und am gleichen Ort nicht wiederholen. Nichtsdestotrotz ist die zunehmende Häufigkeit von Stürzen im Hochgebirge frappant und wird auch in den Medien und in der Öffentlichkeit so wahrgenommen. Weder der Faktor «Gestein» noch der Faktor «Topographie» kann diese Zunahme erklären, sehr wohl aber der klimabedingte Schwund von Gletschern und Permafrost. Die jüngeren Sturzereignisse sind alle aus Permafrost-Flanken niedergegangen.

Der tragische Fall des Bergsturzes von Blatten liefert und bestätigt zwei zentrale Botschaften, eine bittere und eine ermutigende.

 

Das Klima wird sich für Generationen irreversibel weiter verändern, das Eis auf und unter der Oberfläche kalter Berge ist massiv geschädigt und nimmt weiter Schaden. Grosskalibrige Sturzereignisse werden im ausgesprochen klimasensitiven Hochgebirge mit grosser Wahrscheinlichkeit weiter zunehmen. Wie die jüngsten Ereignisse zeigen, können bei ungünstigen Konstellationen grosse und unvermeidbare Schäden eintreten. Ganz besonders im dicht erschlossenen Alpenraum muss man sich dieser schwierigen Herausforderung und ernsten Klimafolge stellen.

 

Die hervorragende, erfolgreiche Zusammenarbeit von Behörden, Fachleuten und Bevölkerung im Fall der tragischen Zerstörung von Blatten zeigt, dass gerade in der Schweiz das Wissen, die Technologie, die Mittel, die Organisation und die Solidarität vorhanden sind, um die Schwierigkeiten anzupacken und die prioritäre Aufgabe zu übernehmen: Menschenleben zu schützen.  

Haeberli, W., Huggel, C., Kääb, A., Zgraggen-Oswald, S., Polkvoj, A., Galushkin, I., Zotikov, I. and Osokin, N. (2004): The Kolka-Karmadon rock/ice slide of 20 September 2002: an extraordinary event of historical dimensions in North Ossetia, Russian Caucasus. Journal of Glaciology, 50/171, 533-546.